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Anatomies 

Das Eingreifen hinein ins textile Gewebe hat für mich stets etwas Anatomisches (gr. anatomía aufschneiden, sezieren). Einerseits wird die Struktur des Stoffes erforscht, hervorgehoben oder verändert, anderseits ist da die stickende Person, die ihre anatomischen Voraussetzungen mitbringt und diese samt ihren Fertigkeiten mit in die Fadenarbeit einfliessen. Die Präzisionsarbeit einer Stickerin und eines Chirurges (wie von Gustave Flaubert in Madame Bovary dargestellt) haben nicht nur auf den ersten Blick viele Gemeinsamkeiten.

Dieses vielschichtige Projekt hat es zum Ziel, die technischen, inhaltlichen und anatomischen Verbindungen und Ähnlichkeiten zwischen dem textilen und menschlichen Gewebe zu erforschen. Einerseits stehen diverse handwerklichen Stick- und Stricktechniken im Vordergrund, sei es Durchbruchstickerei (Muster im Stoff werden durch das Herausziehen der Fäden erzeugt) oder experimentelle Fadenarbeit. Anderseits ist die Wechselwirkung zwischen dem textilen Handwerk und der eigenen Körperlichkein vom Interesse, hierhin gehören auch Techniken des Achtsamen Stickens (z.B. in Verbindung mit Atemübungen oder Yoga, möglich sind auch kleine Aufgaben zur Wahrnehmung). Auf diese Weise werden die eigenen körperlich-geistigen Befindlichkeiten erkundet und um neue Erkenntnisse erweitert. Diese wirken sich wiederum auf die eigene textile Arbeit aus oder beeinflussen die kreative Arbeit anderer Mitglieder in der Gruppe. Das Projekt Anatomies versteht sich als eine Art praktisches Lab, wo aus Fäden greifbare Artefakte entstehen und konkrete Fragestellungen zu meinem Dissertationsprojekt erforscht werden. 

Auch aus diesem Grund habe ich die leitenden Motive für dieses Projekt aus der Anatomie gewählt (Querschnitt des Gehirns nach Descartes, die Bahnen des Nervensystems, das menschliche Herz, die Innenansicht des Rumpfes oder die menschliche Hand). Die von mir gewählten Körperteile unterscheiden sich in ihrer Beschaffenheit: die weiche Haut, die schützt und bedeckt, die Knochen, deren Festigkeit ein Fundament bildet, die feinen Nervenbahnen, die sich wie ein Netz in unserem Inneren ausbreiten etc. 

Und dann ist hier noch die kaum zu übersehende Metaphorik, sowie die visuellen Anlehnungen an Textilien, die sich in den frühen Arbeiten bekannter Anatomen wie Vesalius (1514-64) oder Amusco (1525-88) finden. In Anspielung auf Kleidungsstücke ziehen sich die sezierten Figuren ihre Haut selber vom Körper ab und etnblössen auf diese Art ihr Inneres für die Betrachter. Der holländische Arzt Frederik Ruysch (1638-1731) ging sogar so weit, dass er für seine Präparate (oftmals handelte es sich um anatomische Anomalien oder Raritäten) zarte Stickereien und Spitzen anfertigen lies (bei seiner Tochter) und diese 'ankleidete'. Die von Ruysch arrangierten Skelettgruppen waren meist in skurilen Landschaften aus Knochen, Pflanzen und Textilien istalliert, wo Mini-Bäume ähnlich Blutgefässen und Nervenbahnen durch die Rippen ragen. 
Mein Projekt Anatomies lotet die technischen Grenzen und Gemeinsamkeiten zwischen textilem Gewebe und den anatomischen Darstellungen des menschlichen Körpers aus. Die einzelnen Organe und Körperteile sind nicht bloss an der Oberfläche (nach)gestickt, sondern entfalten sich inmitten vom textilen Gewebe, das wiederum auf diese Art deformiert, entfremdet, verformt und verändert wird. Dort, wo diese zwei Anatomien aufeinander treffen, nimmt das textile Gewebe die Form und Struktur des menschlichen Gewebens an, und zwar so, wie meine Hände es hervorbringen. Ergänzend zu handwerklichen Techniken können auch Übungen aus dem Yoga oder Achtsamkeitslehre hinzukommen. Auf diese Weise wird die einzigartige Verbindung des menschlichen und textilen Gewebes hervorgehoben und herausgearbeitet.  

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Links oben: Detail aus einer Durchbruchstickerei meiner Mutter (roter Leinenstoff). 

Rechts oben: Ein von mir angefertigtes Muster auf einem handgewobenen Ramiestoff (blaue Indigofarbe).

Links unten: Teststück in Form des menschlichen Herzens

Rechts unten: Ein Ausschnitt aus einem in Papier gehäkelten Handschuh

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